Erzähl doch mal…

Viel zu Schade für die Schublade

An dieser Stelle möchten wir unsere Museumsgäste zu Wort kommen lassen. Wenn Sie hier gelebt oder häufig in Ferien waren, kramen Sie in Ihren Erinnerungen! Wie war das damals? Was hat sich verändert? Was ist ihr ganz persönliches Inselerlebnis? Gibt es Inselgeschichten, die sie gerne mit uns teilen möchten? Wir freuen uns auf Ihre Zusendungen.

Badefriesel von Marion Eiche – Teil 1

Eure Durchlaucht kommt

Sie roch nach frischen Duftveilchen, aber ihr Blick war fahl und grau. Als sie kurz vor Mittag mit ihrer Zofe zum Damenstrand kam, war ich schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen – Teekochen für die Fremden, das Kind versorgen, Mäntel und Laken richten, die Karren ausfegen für die Badegäste. Das Hochwasser war früh gekommen, und die Kundschaft gleich mit.  

Heute war der hölzerne Badekarren geschrubbt und gewienert und mit rotem Samt und besonders weichen Laken hergerichtet worden. Für die allerwerte hochwohlgeborene Prinzessin.  „Lass sie nicht zu lang im Wasser“, hatte mich der Badearzt angewiesen, „sie leidet an Anämie, und es ist ihr erstes Nordseebad“.

Prinzessin Luise ging zögerlich voran, bei jedem Schritt im Sand wich sie scheinbar zurück. Ich knickste vor ihr. „Eure Durchlaucht“, grüßte ich, wie mir geheißen war. Die andere nahm kaum Notiz von mir, und stieg nun mit überraschend festem Schritt die Stufen zur Badekutsche hoch. Als ob sie das eben tun müsste. Dann schubste eine kräftige Windböe die Tür hinter uns zu.

Inselmuseum zur Geschichte von Juist in der Nordsee
Historisches Kurhaus mit Strandleben, 1910er Jahre
Badefriesel von Marion Eiche – Teil 2

Im Badekarren

Noch nie zuvor hatte ich mich in einem derart schäbigen, winzigen und schmucklosen Raum befunden. Die abgewetzte Samtauflage der schmalen Sitzbank versuchte vergeblich von der rauen und rissigen Struktur der Holzwände abzulenken. Unwürdig dem Besuch einer Dame von Hofe.

Sogleich kniete sich die Badefrau unprätentiös vor mir nieder. Sie öffnete die silbernen Schnallen meiner Schuhe. Während sie anfing, mich zu entkleiden, schweiften meine Gedanken ab. Der König von Sachsen hatte seine Frau zum Meeres-baden geschickt, der vermeintlichen Heilkraft der wüsten Wellen hingebend, um selbst mit stolzer Brust das Waidmannsheil der Seehundjäger entgegenzunehmen. Bei der Überfahrt hatte ich zwei lustige Robben spielend im Wasser erblickt.

Der König hatte es nötig. Waren zuletzt seine Bemühungen um eine grundlegende Schulreform politisch gescheitert.

Die Badefrau löste die Schnüre meines Korsetts, und endlich konnte die Luft wieder frei bis tief hinunter zum Zwerchfell strömen. Längst hatte ich gelernt in der unnachgiebigen Hofkleidung nur kurz und schnell in die obere Hälfte der Lunge zu atmen. Befreit aus ihrem Gefängnis quollen nun Brust und Bauch blass und schlaff vor den Augen der Badefrau hervor. Ihrem fragenden Blick wie als Entschuldigung entgegnend sagte ich: „Sieben Kinder. Sieben Schwangerschaften. Sieben Geburten. Haben Sie Kinder?“ „Jo, eine Tochter. Sie spielt da hinten in den Dünen.“

Badefriesel von Marion Eiche – Teil 3

Ab ins Wasser…

Ich zog die Kutsche über den Strand bis mir das Meerwasser um die Knie schäumte. Auch achthundert Meter weiter östlich am Herrenstrand war die Flagge gehisst. Badezeit. Die Hochgeborene aus Sachsen trug nun Beinlinge aus Leinen, Badejacke und Haube. Sie klammerte sich an das Seil, unbeholfen nahm sie die Stufen ins Wasser. Als wärs eine Sturmflut, das bisschen Seegang. Abscheu und Furcht standen ihr ins Gesicht geschrieben. „Gibt es Seegetier in diesen Wogen?“ „Höchstens ein paar Quallen.“

Nun musste es schnell gehen. Zögern und Frösteln tat dem Bad im Meer nicht gut. Mit festem Griff schob ich das schwache, blasse Wesen in die Fluten. Als sich die nächste größere Welle vor uns auftat, drehte ich sie rücklings zur offenen See. „Schnell, kauert Euch hin.“ Mit voller Wucht traf das Wasser ihren Körper und umströmte sie von Kopf bis Fuß. Ohne Regung hing ihr Arm schlaff in meinem Griff. Sekunde um Sekunde, keine Bewegung. Eine reine Ewigkeit. Im nächsten Moment wurde sie wieder lebendig. Sie japste und schrie mit greller Stimme: „Bringt mich ans Ufer, meine Haut, sie glüht.“ „Ach, das tut nichts. Das ist der Badefriesel. Euer Körper, der hilft sich nu selbst.“ Und da rollte sie schon an, die nächste Welle.

Inselmuseum zur Geschichte von Juist in der Nordsee
Historisches Kurhaus mit Strandleben, 1910er Jahre
Badefriesel von Marion Eiche – Teil 4

Ohnmacht

Die Badefrau mit ihren lebensfrisch erglühten Backen behielt Recht: Erst nach der dritten schonungslosen Welle fing ich zu frösteln an.  Allein und gänzlich frei von ihrem Halten durchschritt ich das knietiefe Wasser bis zur Treppe des Wagens. Jede Zelle meines Kopfes, meiner Hände, des Bauches und der Beine konnte ich spüren. Doch war es kein Schmerz. Schon eher ein starkes Vibrieren. Die Symphonie eines ganzen Orchesters von Gefühlen. Dann blieb mir die Luft weg. Und das Crescendo verstummte beim nächsten Takt. Mit einem Paukenschlag übermannte mich die Ohnmacht.

Badefriesel von Marion Eiche – Teil 5

Eine heiße Bouillon

Schnell runter mit den nassen Sachen. Ich wickelte sie in ein wohlig-warmes Leinenlaken ein. Die Prinzessin atmete wieder gleichmäßig. Gott sei Dank. Nicht auszudenken, wenn……  Langsam ging die Spannung aus meinen Gliedern raus. „Haben Sie wohl etwas zu essen bei sich? Ich geruhe nicht zu frühstücken.“ Ich gab ihr einen Kanten Brot, den ich für mein hungriges Töchterchen mitgenommen hatte. „Wenn Ihr morgen zum Baden kommt, Eure Durchlauchtigste, dann trinkt mal vorher eine große Tasse heiße Bouillon.“

Als Prinzessin Luise wenig später mit ihrer Zofe den Steg über den Damenstrand zurück in Richtung Kurhaus ging, drehte sie sich noch mal zu mir um. Der Duft von frischen Veilchen war verflogen. Aber ihre Augen leuchteten wie der blaue Kristall ihrer Halskette in der Sonne über Juist.

Inselmuseum zur Geschichte von Juist in der Nordsee
Inselmuseum zur Geschichte von Juist in der Nordsee
Winter auf Juist von U. Gressmann

Von Katsteerten und Kettenkriegen

Als ich ein Kind war, da bin ich mir ganz sicher, ist der Hammersee auf Juist jedes Jahr im Winter zugefroren. Kaum war das Eis fest genug, schwangen wir Kinder uns aufs Rad und strampelten mit unseren Schlittschuhen auf dem Gepäckträger los, Richtung Westen, zum Hammersee.
Dort angekommen rauchten wir zuerst ein paar Züge Katsteerten.
Katsteerten, Katzenschwänze, nannten wir die festen Rohrkolben im Schilf. Wie sie geschmeckt haben? Ich kann es nicht mehr sagen; wahrscheinlich scheußlich, aber es gehörte einfach zum Schlittschuhlaufen dazu, diese zu rauchen.
Eiskalt pfiff der Ostwind, das Eis auf dem Hammersee war spiegelglatt und sah fast schwarz aus. Manchmal knisterte und knackte es weit vom Ufer entfernt.
Im Eis einzubrechen war nicht so schlimm wie es sich vielleicht anhört. Wir fuhren zumeist im Uferbereich Schlittschuh und dort war das Wasser nicht tief. Man konnte immer noch stehen, und dann waren ja auch die anderen Kinder da, zum Rausziehen. Allerdings: Durch den eisigen Wind sind die nassen Kleidungsstücke sofort gefroren und dann sieben Kilometer auf dem Fahrrad zurück radeln – das hört sich ungemütlich an und ist es auch. Ich habe es ausprobiert.

Winter auf Juist von U. Gressmann

Über Todesbahn und Gummi-Eis

Der Goldfischteich lag etwas näher für uns im Osten der Insel und bot noch mehr Vergnügen beim Schlittschuhlaufen. Um die kleinen Inselchen herum konnte man fabelhaft Kettenkriegen spielen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sausten wir dahin. Hatten wir Durst, hackten wir einfach mit dem Schlittschuh ein Loch ins Eis, pressten den Mund darauf und tranken das Wasser. Niemand bekam Bauchschmerzen davon, schon deshalb nicht, weil es uns verboten war,
Wasser aus dem Goldfischteich zu trinken.
Hatte es gefroren und geschneit, fuhren wir mit den Schlitten die Dünen zum Strand hinunter. Der gefrorene Sand war hart wie Beton und es genügte eine dünne Schneeschicht, um darauf fahren zu können. Am besten band man dazu
drei oder vier Schlitten hintereinander. Das gab Schwung! Wer die Kufen ordentlich glatt geschmirgelt hatte, konnte es bis ans Wasser hinunterschaffen.
Die „Todesbahn“ von der Strandpromenade bis hinunter zum Haus Doyen auf der Straße hinunter zu fahren, trauten sich nur die mutigsten Jungen, denn dort stand eine Straßenlaterne im Weg und die galt es zu umfahren – das schaffte nicht jeder ohne eine tüchtige Beule.
Ein besonderes Vergnügen war das Gummi-Eis im Wattenmeer. Salzwasser gefriert ja nicht so fest. Es bleibt weich und biegsam. Im Watt blieb
bei Ebbe das Eis zurück und auf dieser weichen, aber festen Eisfläche konnte man um die Wette mit dem Schlitten fahren. In die Spitze eines festen Stockes wurde dazu zum Abstoßen ein Nagel eingeschlagen und los ging es. Besonders geschickte Jungen befestigten ein kleines Segel auf dem Schlitten und dann sorgte der Wind für den nötigen Schwung.

Die Autorin dieser Geschichte ist Ursula Gressmann. Sie wurde im September 1945 auf Juist geboren und hat bis 1962 dort gelebt. Sie schreibt Kinderbücher und hat nun auch ihre Kindheitserinnerungen zu Papier gebracht. „Winter auf Juist“ ist ein Ausschnitt daraus.

Inselmuseum zur Geschichte von Juist in der Nordsee